Aus aktuellem Anlass

Hier noch einmal die Geschichte von Irgendwie Anders

Für H. und alle die, die immer noch meinen, nur sie seien irgendwie anders

In Liebe ❤

Auf einem hohen Berg, wo der Wind pfiff, lebte ganz allein und ohne einen einzigen Freund Irgendwie Anders.

Er wusste, dass er irgendwie anders war, denn alle fanden das. Wenn er sich zu ihnen setzen wollte. Oder mit ihnen spazieren gehen. Oder mit ihnen spielen wollte, dann sagten sie immer: „Tut uns leid, du bist nicht wie wir. Du bist irgendwie anders. Du gehörst nicht dazu.“

Irgendwie Anders tat alles, um wie die anderen zu sein.

Er lächelte wie sie und sagte „hallo“.
Er malte Bilder.
Er spielte, was sie spielten (wenn er durfte).
Er brachte sein Mittagessen auch in einer Papiertüte mit.

Aber es half nichts.

Er sah nicht so aus wie die anderen und er sprach nicht wie sie.
Er malte nicht so wie sie.
Und er spielte nicht so wie sie.
Und was er für komische Sachen aß!

„Du gehörst nicht hierher“, sagten alle. „Du bist nicht wie wir, du bist irgendwie anders!“

Irgendwie Anders ging traurig nach Hause. Er wollte gerade schlafen gehen, da klopfte es an der Tür. Draußen stand jemand – oder etwas.

„Hallo!“ sagte es. „Nett, dich kennen zu lernen. Darf ich bitte reinkommen?“

„Wie bitte?“, sagte Irgendwie Anders.

„Guten Tag!“, sagte das Etwas und hielt ihm die Pfote hin – das heißt, eigentlich sah sie mehr wie eine Flosse aus.

Irgendwie Anders starrte auf die Pfote. „Du hast dich wohl in der Tür geirrt“, sagte er.

Das Etwas schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht, hier gefällt’s mir. Siehst du…“

Und ehe Irgendwie Anders auch nur bis drei zählen konnte, war es schon im Zimmer…

… und setzte sich auf die Papiertüte. „Kenn ich dich?“, fragte Irgendwie Anders verwirrt.

„Ob du mich kennst?“, fragte das Etwas und lachte. „Natürlich! Guck mich doch mal ganz genau an, na los doch!“

Und Irgendwie Anders guckte. Er lief um das Etwas herum, guckte vorn, guckte hinten. Und weil er nicht wusste, was er sagen sollte, sagte er nichts.

„Verstehst du denn nicht!“, rief das Etwas. „Ich bin genau wie du! Du bist irgendwie anders – und ich auch.“

Und es streckte wieder seine Pfote aus und lächelte. Irgendwie anders war so verblüfft, dass er weder lächelte noch die Pfote schüttelte.

„Wie bin ich?“ sagte er. „Du bist doch nicht wie ich! Du bist überhaupt nicht wie irgendwas, das ich kenne. Tut mir leid, aber jedenfalls bist du nicht genauso irgendwie anders wie ich!“ Und er ging zur Tür und öffnete sie. „Gute Nacht!“

Das Etwas ließ langsam die Pfote sinken. „Oh!“, machte es und sah sehr klein und sehr traurig aus. Es erinnerte Irgendwie Anders an irgendwas, aber er wusste einfach nicht, woran. Das Etwas war gerade gegangen, da fiel es ihm plötzlich ein.

„Warte!“, rief Irgendwie Anders. „Geh nicht weg!“ Er rannte hinterher, so schnell er konnte. Als er das Etwas eingeholt hatte, griff er nach seiner Pfote und hielt sie ganz, ganz fest. „Du bist nicht wie ich, aber das ist mir egal. Wenn du Lust hast, kannst du bei mir bleiben.“

Und das Etwas hatte Lust. Seitdem hatte Irgendwie Anders einen Freund.

Sie lächelten und sagten „Hallo“.
Sie malten zusammen Bilder.
Sie spielten das Lieblingsspiel des anderen – jedenfalls probierten sie es…
Sie aßen zusammen.
Sie waren verschieden, aber sie vertrugen sich.

Und wenn einmal jemand an die Tür klopfte, der wirklich sehr merkwürdig aussah, dann sagten sie nicht „Du bist nicht wie wir“ oder „Du gehörst nicht dazu“. Sie rückten einfach ein bisschen zusammen.

(von Kathryn Cave)

24 Kommentare zu „Aus aktuellem Anlass

  1. Ein sehr schöner Beitrag! Es ist so schwer zu verstehen, dass viele Menschen das Anders-Sein oder den Anderen nicht als Chance begreifen!

    Aber vielleicht liegt es daran, dass wir uns im Leben verzetteln oder das uns eine etwas andere Einstellung zum Leben besser täte.
    Tucholsky hat sich auch in den 30er Jahren dem Thema gewidmet. Vielleicht hilft die Lektüre, ein wenig über diese Schwächen nachzudenken:

    Tucholsky: Ein Ehepaar erzählt einen Witz
    http://gutenberg.spiegel.de/buch/-ganz-anders-1188/5

    Das Stundenkonto von Tucholsky:
    http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-geschichten-1191/8

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  2. Ein wunderbarer Beitrag und ein schönes Gleichnis. Jeder ist speziell, jeder ist etwas Besonderes und das sollten wir ALLE respektieren und wertschätzen. Kürzlich sagte jemand zu mir, ich sei nicht normal. Ich war stolz darauf, denn was ist eigentlich normal? Ich bin auch anders, wie wunderbar!
    Hab einen schönen Sonntag
    Liebe Grüsse
    Thomas

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        1. Ja klar – gerade ich – total normal 😆

          nee … das kommt aus der Zeit, als ich anfing zu denken … in jungen Jahren
          da hab ich überlegt „was ist normal“ und kam darauf „normal ist so wie ich bin“
          sagen wollte ich damit, dass wohl jeder erst mal von sich selbst ausgeht, wenn es darum geht, was normal ist

          Aber was ist eigentlich normal ?
          Der Norm entsprechend
          Ich glaub, für Menschen gibt es keine …

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          1. Ich hoffe sogar, dass es keine Norm gibt, sonst kriegst nachher vielleicht auch noch Strafzettel dafür.
            Ich Hab das mit dem Normal schon verstanden, irgendwo musst ja mit dem Vergleich beginnen… muss man das? 🤔
            „Sie haben sich nicht normal verhalten, als Sie die Kassiererin gefragt haben, ob sie mit Ihnen als Kunde zufrieden war, das ist nach DIN4711 eine Ordnungswidrigkeit und kostet 35,-€“ 😁

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  3. Gerade unter den jüngeren Jahrgängen ist das Anders-Sein ja total IN . Oder wie das Tochterkind mal formulierte:“ Wir sind alle so darauf ausgerichtet, anders sein zu wollen als die alle Anderen, und sind uns mit diesem Wunsch dann doch schon wieder alle ähnlich.“

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